“Die Erinnerungen machen mir keine Angst mehr”
Interview mit einer Klientin, 32 Jahre, Traumatherapie mit EMDR
Raffaela Witting: Hallo und vielen Dank, dass du heute hier bist, um über deine Erfahrung mit der Therapie zu sprechen. Kannst du ein wenig darüber sagen, was dazu geführt hat, dass du dich für eine Therapie entschieden hast?
Klientin: Sehr gerne, ich hoffe, dass meine Erfahrungen anderen Menschen helfen können und dazu beitragen können, ihnen die Angst vor einer Therapie zu nehmen.
Für eine Therapie habe ich mich entschieden, weil ich in meiner Kindheit und Jugend über mehrere Jahre sexuell missbraucht wurde. Bis zur jetzigen Therapie war es aber ein langer Weg. Vor einigen Jahren hatte ich massive Schlafprobleme, d.h. ich konnte max. 1-2 Stunden pro Nacht schlafen. Die Ärzte konnten körperlich nichts finden, also dachte ich, es müsse psychisch sein. Irgendwann konnte ich nicht mehr arbeiten gehen und brauchte daher ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis und bin so bei einem Psychologen gelandet. Diese Erfahrung war nicht gut, weil es überhaupt nicht gepasst hat und er wahrscheinlich nicht kompetent genug war auf dem Themenfeld, das mich betrifft.
Wie hast du entschieden, dass es erneut an der Zeit ist, professionelle Hilfe zu suchen?
Ich habe es hinausgezögert, bis es nicht mehr ging. Schlussendlich war es ein Zusammenbruch, der mir klar gemacht hat: Okay, das ist nicht normal, so depressiv zu sein und solche Gedanken zu haben, das ist nicht normal. Ich habe realisiert, dass ich jemanden brauche, der mir wirklich hilft. Zuvor wollte ich mir das aufgrund schlechter Vorerfahrungen mit einem Therapeuten nicht eingestehen und habe versucht zu verdrängen. Nicht mal meinem Partner habe ich von dem sexuellen Missbrauch erzählt. Als ich dann zusammengebrochen bin, habe ich ihm alles erzählt und er war dann derjenige, der sagte: “Wir müssen jemanden suchen, der dir hilft. Nichts Schamanisches, nichts Komisches, nichts Hochkomplementäres, sondern einen richtigen Psychologen.”
Wie bist du bei der Suche nach einer geeigneten Therapie vorgegangen?
Ich habe im Internet jemanden gesucht, der wirklich spezialisiert ist auf meine Probleme, also Trauma usw. In meiner Umgebung fand ich niemanden, der mich ansprach oder wo ich das Gefühl hatte, dort könnte ich mich wohlfühlen.
Schliesslich habe ich dich gefunden. Allein der Fakt, dass Online-Termine via Video möglich sind, hat es mir sehr erleichtert, mich zu überwinden. Ich habe mir gedacht: Du hast nichts zu verlieren, probier es einfach mal, du verschwendest keine Zeit, du musst keinen Weg auf dich nehmen - mach’s einfach mal.
Der Vorteil ist, dass man wirklich gezielt nach jemandem suchen kann, der spezialisiert ist und es völlig irrelevant ist, wo deine Psychologin ist. Ich muss nicht nach Zürich oder sonst wohin fahren, sondern wir können uns treffen, egal wo ich bin, was wir schon oft an verschiedenen Orten getan haben. Das war der ausschlaggebende Punkt, warum ich den Schritt gewagt habe.
Und so bist du bei mir gelandet und jetzt kennen wir uns schon eine ganze Weile.
Ja, jetzt ist es schon ein knappes Jahr. Es ist so viel passiert in diesem Jahr.
Wie war das Vorgehen und was war in der Therapie wichtig für dich?
Der Raum, den du mir gegeben hast und gibst, ist sehr wichtig für mich. Dass ich einfach sagen kann, was ich will, ohne Angst haben zu müssen.
Zum einen die Gespräche über Aktuelles, als auch über die Vergangenheit. Ich habe das Gefühl, ich kann mit dir zusammen über Dinge nachdenken. Du nimmst mich sinnbildlich an die Hand und gibst mir Ideen und Erklärungen. Das finde ich schön, dass du mir nicht einfach sagst “So ist es”, sondern, dass du mir Inputs gibst, die mir helfen, meine Gedanken besser einzuordnen. Ausserdem finde ich es toll, dass es nicht heisst “Heute müssen wir das machen, nächste Woche müssen wir das machen”, sondern, dass es voll auf den Modus ankommt und ich wählen kann.
Zum anderen ist es das EMDR, das ich nach wie vor richtig faszinierend finde.
Nun hast du schon EMDR erwähnt. Kannst du erklären, was EMDR ist und wie es funktioniert? Hast du zuvor schon einmal von EMDR gehört?
EMDR habe ich zuvor nicht gekannt. Ich hatte zwar davon gelesen und gehört, dass es retraumatisierend sein kann, weshalb ich davon lieber die Finger lassen wollte. Es machte mir Angst, an meine Vergangenheit zu denken, denn das hatte ich bisher immer versucht zu verdrängen. Heute weiss ich: Verdrängung funktioniert nicht.
EMDR ist wie Tagträumen, wo man mit den Gedanken abschweift - nur ist es bewusst.
Beim EMDR werden Augenbewegungen gemacht, während man an belastende Erinnerungen denkt. Die Augenbewegungen - beim ersten Mal dachte ich mir “Come on, das funktioniert doch nicht”, aber ich probierte es. Und ich muss sagen, es ist wirklich faszinierend, was in dieser Zeit mit einem passiert. Zum Beispiel der positive Satz, den wir jeweils vorbesprechen, der mich dann begleitet und die Erinnerungen, die mich begleiten. Das langsame Herantasten empfand ich auch als hilfreich. Wir haben mit einer nicht allzu schlimmen Erinnerung begonnen, damit ich sehe, wie das funktioniert.
Man macht also diese Augenbewegungen und gleichzeitig fängt man an, Daten von seinem Computer, also Kopf zu überprüfen. Schnipsel aus der Vergangenheit. Und das Schöne ist, ich bestimme, was damit passiert. Es ist nicht so, dass es herauskommt und mich verschlingt, wie ein Monster oder mich übermannt, sondern EMDR macht es besser greifbar. Ich kann von allen Richtungen betrachten, was der Moment, der Gedanke mit mir gemacht hat und wie es sich auf mein Leben ausgewirkt hat. Es ist wie ein Entschlüsseln von mir selbst. Es ist wie Daten hervorholen und neu ablegen.
Wir nehmen jeweils eine spezifische Erinnerung, die du jedoch nicht detailliert beschreiben musst. Anfangs kommen für gewöhnlich Erinnerungen an die Situation selbst, sozusagen der chronische Ablauf. Anschliessend kommt es dann sehr oft zu Erkenntnissen, zu Verbindungen, die sich plötzlich ergeben und zu AHA-Momenten.
Ja, das ist richtig heftig. Man geht mit dem rein, was man im Moment hat, z.B. “Der Gedanke löst dieses und jenes in mir aus”. Und beim EMDR kommt dann der Gedanke “Und wieso löst es das aus?” und man hat die Möglichkeit, tiefer zu gehen. Oft kommen dann Erinnerungen, von denen ich dachte, sie haben mit der Situation gar nichts zu tun. Aber dann erkenne ich plötzlich: Boa, das könnte der Auslöser sein, dass ich z.B. heute das Gefühl habe, nichts wert zu sein.
Dieses Erkennen und vor allem Verstehen ist krass. Mir hilft es, weil ich jetzt nicht mehr denke, dass ich ein komischer Mensch bin, sondern, dass ich verstanden habe, dass es Gründe gibt, warum ich so bin, wie ich bin und warum ich in gewissen Situationen so reagiere, wie ich reagiere. Diese Erkenntnis ist wirklich ein AHA-Moment, aber zusätzlich noch das Umprogrammieren können, das ist wirklich crazy. Dass ich die Erinnerung nehmen kann und mir sagen kann: Ok, ich habe es verstanden, ich weiss wohin es führt. Jetzt kann ich es neu labeln, neu benennen und ins Gegenteil verwandeln, dass es mir Stärke und Mut gibt. Vor allem aber, dass ich die Erinnerung in einen neutralen Ordner abspeichern kann und sie mir keine Angst mehr macht. Es gibt mir eine Art Kontrolle über mein Hirn.
Ich finde deine Metapher sehr passend, dass es wie ein Umprogrammieren ist, wie ein Ablegen von Daten und das Entstehen neuer Ordner. Du weisst wo die Erinnerungen abgelegt sind, du hast die Ordner unter Kontrolle und sie öffnen sich nicht einfach willkürlich.
Ja, absolut. Vor der Therapie waren die Erinnerungen wie eine zugekettete Kiste für mich, weil ich so Angst hatte, diese Kiste zu öffnen. Ich dachte mir, wenn die Kiste aufgeht, überwältigt es mich, mir wird es richtig schlecht gehen und ich werde Depressionen haben. Jetzt habe ich gemerkt, dass ich die Ketten abmachen und die Kiste öffnen kann. Darin sind nur Daten, das ist alles, es ist nicht schlimm. Es ist überhaupt nicht retraumatisierend, sondern es hat mir geholfen, die Erinnerungen neu abzuspeichern.
Das heisst, unsere Therapieerfahrungen haben sich sehr von dem unterschieden, wie du Therapie zuvor erlebt hast.
Total, das sind Welten. Ich habe gemerkt, dass Therapie funktioniert und wie ich Lust darauf habe, weiterzumachen. Herauszufinden, wer ich bin und wieso ich so bin.
Gab es Momente in der jetzigen Therapie, die besonders schwierig oder emotional waren?
Es ist nicht einfach, es ist anstrengend, weil es etwas in mir auslöst. Nach den Sitzungen kommen oft noch Gedanken, die ich verarbeiten muss. Es können neue Gedanken entstehen und das kann anstrengend sein und manchmal traurig machen. Das ist aber okay, weil ich die Trauer dann zulassen kann, weil es das erste Mal ist, dass ich verstehe, dass es schlimm ist, was mir damals passiert ist. Ich darf mir die Erlaubnis geben, darüber zu trauern. Es ist eine andere Art Trauer, es ist wie ein Abschliessen und Ablegen. Auch wenn neue Erinnerungen kommen, machen sie mir keine Angst mehr. Ich nehme sie an, schreibe sie auf und kann sie bei der nächsten EMDR-Sitzung bearbeiten. Ich habe einen viel besseren Umgang gefunden und kann meine Gedanken leichter händeln.
Woran hast du Fortschritte bemerkt?
Zum einen an meinen Gedankengängen, d.h. dass ich viel besser verstehen kann, warum mich gewisse Situationen triggern, mir nahe gehen oder mich wütend machen. Ich kann es nun neutraler betrachten und besser mit den Situationen umgehen, weil ich für mich eine Erklärung habe und mich selber beruhigen kann. Auch die Flashbacks sind deutlich weniger geworden, seitdem ich mich damit befasse. Hierzu habe ich Skills von dir gelernt, die ich anwenden kann, wenn Flashbacks auftreten.
Wie hat sich deine Einstellung zu deinem Trauma durch die Therapie verändert?
Zum einen habe ich jetzt weniger Angst, zum anderen bin ich fasziniert, was ich damit machen kann. Das ist sehr spannend.
Hat die EMDR-Therapie Auswirkungen auf deine Beziehungen zu anderen Menschen?
Meine Entscheidungen sind bewusster geworden. Lange war mein Selbstwertgefühl bzw. meinen eigenen Wert zu kennen ein grosses Problem. Jetzt bin ich selbstbewusster und kann mehr für mich einstehen. Mit meinem Partner kann ich über alles reden und bekomme Verständnis und Rückhalt, was auf gegenseitiger Basis beruht. Ausserdem habe ich den Kontakt zu manchen Menschen abgebrochen, die mir nicht guttun, weil ich mich nicht mehr auf diese und jene Art behandeln lassen möchte.
Welchen Rat würdest du anderen geben, die ein Trauma erlebt haben und eine Therapie in Betracht ziehen?
Wenn du dir schon Gedanken machst, ob du eine Therapie machen sollst oder nicht - dann mach’s! Der Gedanke zeigt dir eigentlich schon, dass du ready bist. Es wird nur schlimmer, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Zögere es nicht zu lange hinaus.
Mach dir Gedanken darüber, zu welchem Therapeuten du gehen willst, ob du lieber zu einer Frau oder einem Mann möchtest etc. Ausserdem ist wichtig, dass es matcht, dass es stimmt zwischen dir und dem Therapeuten. Wenn du merkst, dass du mit dem Therapeuten nicht klar kommst, möchte ich dir sagen: Es sind nicht alle so.
Einer der wichtigsten Faktoren in der Therapie ist, dass die Beziehung stimmt. Wenn man merkt, dass es nicht matcht, darf man das sagen, das ist völlig okay.
Genau, denn mit seinem Therapeuten bespricht man sehr persönliche Sachen und darum ist es wichtig, dass der Draht stimmt, sonst traut man sich nicht offen zu reden und somit fehlt die Basis.
Vielen Dank für deine offenen und ehrlichen Antworten.
Weitere Informationen über Anzeichen einer Traumatisierung sowie Möglichkeiten der Behandlung können in meinem Blogbeitrag Der Weg aus dem Trauma nach einem sexuellen Übergriff nachgelesen werden.
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